… die noch fern sind von Dir.

Liebe Schwestern und Brüder,

nachdenklich werde ich beim Hochgebet der hl. Messe, wenn es heißt: „Und führe zu dir auch alle deine Brüder und Schwestern, die noch fern sind von dir“. Jeder von uns kennt Personen, an die wir während dieser Gebetsbitte denken können. Tröstend ist, dass dieser Gebetsgedanke eine Zuversicht einschließt: „Die noch fern sind von dir“. „Fern sein“ mag eine nur eine vorübergehende Erscheinung sein. Diese Bitte schaut in die Zukunft, sie beklagt nicht, sondern betet für die, die „noch fern“ sind.

Wir wissen: existenzielle Fragen des Lebens kann man lange vor sich herschieben. Aber irgendwann einmal stellen sich diese Fragen drängender denn je. Das Moment einer Krise, wir kennen es auch aus Heiligenbiographien, kann zu einer wohltuenden Erfahrung des Heiles werden.

Nicht anders bei der biblischen Gestalt des Zachäus, dessen Begebenheit an diesem Sonntag aus dem Lukasevangelium vorgetragen wird (Lk 19,1-10). Als Zöllner wird er sich vornehmlich mit weltlichen Dingen beschäftigt haben. Als Steuereintreiber der Römer, und das war ein Zöllner, war er bei den eigenen Leuten unten durch. Selbst bei allem angesammelten Reichtum wird es kein bequemes Leben gewesen sein, das Zachäus führte. Zudem wird er versucht haben, sein unscheinbares äußeres Erscheinungsbild, denn er war klein, zu kompensieren.

Sympathie und Zuneigung wird Zachäus also kaum erfahren haben. Mag sein, dass er in seiner Einsamkeit auch der Verzweiflung nahe war – bis hin zur Lebenskrise. Doch dann passiert das Unerwartete: Mitten in diese Krise tritt ein anderer Mensch, ein außergewöhnlicher. Geld ist von diesem nicht zu erwarten. Dennoch will Zachäus ihn kennenlernen – unbedingt. Dafür setzt er auch eine Menge Energien ein: Zachäus klettert auf einen Baum.

Und was macht der vorbeikommende Jesus? Der Menschensohn, wie Jesus sich selbst nennt (Lk 19,10), hätte an Zachäus vorbeischauen und sich um die anderen Leute kümmern können. Nichts davon. Jesus besitzt den rechten Blick und das rechte Wort. Mehr noch, zum Entsetzen anderer lässt Jesus sich von diesem Mann in sein Haus einladen. Es begegnen sich zwei Welten: die krisengeschüttelte Welt des Zachäus trifft das göttliche Erbarmen, das durch Jesus ihm entgegenkommt.

Die bedrängende Lebenskrise hat Zachäus auf den Baum steigen lassen. Hätte er es nicht gemacht, wäre vielleicht Jesus, wie bei anderen auch, einfach an ihm vorbeigegangen. Die Krise wäre eine Krise geblieben und diese hätte Zachäus gegebenenfalls noch verbitterter gemacht.

Überall, wo Jesus ist, geschieht Heil – das vermittelt uns die Heilige Schrift. Deswegen wird noch heute das Evangelium verkündet, nicht um uns schöne Geschichten zu erzählen, sondern weil wir daran glauben, dass Heilsbegebenheiten sich auch heute zutragen. Es gibt auch in unserer Zeit viele, die ihr Leben auf ganz andere Dinge richten, als auf die Sinnfragen des Lebens. Viele von ihnen machen dabei beträchtliche Krisen durch.

Beim Versuch, Krisen zu bewältigen, laufen nicht wenige Gefahr, sich in bedenkliche Abhängigkeiten zu bringen. Andere dagegen halten Ausschau nach dem, der die persönliche Freiheit bewahrt. Zachäus hatte davon eine Ahnung. Der Zöllner nimmt Jesus bei sich auf und erfährt diesen Augenblick als die Erfüllung seines Lebens.

Machen wir diese Erfahrungen nicht auch? Das Angebot Jesu gilt auch heute: „Heute muss ich in deinem Haus zu Gast sein“ (Lk 19,5). Diese heilbringende Nähe Jesu erleben viele Christen: beim andächtigen Gebet, beim Lesen der der Heiligen Schrift und ebenso auch beim Empfang der hl. Eucharistie. Bewusst oder unbewusst vernehmen wir die Worte Jesu: „Der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist“ (Lk 19,10).

Schließen wir in das Gebet der hl. Messe weiterhin jene ein, denen wir auch diese erfüllenden und heilsamen Erfahrungen wünschen: „Und führe zu dir auch alle deine Brüder und Schwestern, die noch fern sind von dir“.

Pfarrer Wolfgang Guttmann